Achtsamkeit – Warum die Langeweile nicht langweilig ist
by Carsten Kreilaus. Average Reading Time: about 4 minutes.
Morgens um halb neun irgendwo in der S-Bahn auf dem Weg in die Arbeit, zu beobachten ist immer das gleiche Bild: jede Menge über Smartphones gebeugte Köpfe, die die Nachrichten dieser Welt konsumieren. Nachrichten von Freunden, Bekannten, aus der Politik, dem Sport, aktuelle Ereignisse. Gleichzeitig prasseln hunderte Botschaften von allen Seiten auf uns ein. Der einzige Filter sind die Algorithmen der jeweiligen Software-Anbieter. Diese konkurrieren mit unserer Umwelt und den uns umgebenden Menschen. Der Konsum macht süchtig, weil das ständige Aufsaugen evolutionär verankert ist. Wir Menschen sind neugierig, wollen Wissen. Das Problem ist die Verarbeitung dieser Informationsflut. Hier kommt der Mensch an seine Ressourcengrenze. Die Reflektion des Gelesenen findet nur bedingt statt. Gegen die Masse und den unaufhörlichen Frequenzfluss scheinen wir machtlos. Deshalb erfährt die Achtsamkeit heute soviel Aufmerksamkeit. Die Überforderung durch Medien & Co. führen zu einer gegenläufigen Entwicklung. Aber muss jeder Trend immer einen Gegentrend auslösen? Was bedeutet Achtsamkeit überhaupt? Und wie gehen wir in Zukunft damit um?
Nachrichten gefährden unsere Gesundheit
Die Art des Nachrichtenkonsums hat sich geändert. Früher waren die Tagesschau und die Lektüre der Zeitung die Hauptquellen uns über das Zeitgeschehen zu informieren. Heute lesen wir ständig in unseren Newsfeeds über aktuelle Ereignisse und deren entsprechenden Kommentierungen. Im Grundsatz nicht verwerflich, allerdings lernt unser soziales Ich mit jedem Gefällt mir und Link-Aufruf. Entsprechend wird die „Zeitung“ von heute individuell für uns geschrieben, mit Nachrichten, die uns interessieren. Was zunehmend fehlt ist die Gegenperspektive. Und, die Zeit so viele gleichzeitige Informationen überhaupt noch zu verarbeiten. Dadurch prasseln diese „ungefiltert“ auf uns ein. Das Resultat sind Frustration, Aggressivität und oft das Gefühl nicht Herr seiner Selbst zu sein. Wir zermürben uns an Dingen, die wir nicht beeinflussen können, die unser Weltbild ins Schwanken bringen. Die Welt scheint in der Negativität zu versinken.
Bestimmt gibt es in eurer Umgebung Dinge die euch nerven. Mich beispielsweise ärgern die Recycling-Container in der Nachbarschaft, beziehungsweise die Menschen, die ihre Plastikabfälle nicht in die Container, sondern achtlos daneben werfen. Dann und wann steht auch ein Fernseher, eine entsorgte Mikrowelle, nicht mehr benutzte Einkaufswagen oder sonstige Alltagsgegenstände rum, die nicht dort hingehören. Mich nerven Menschen, die in die S-Bahn einsteigen ohne Rücksicht auf die Aussteigenden. Vor allem stören mich aber Unternehmen, die ohne Rücksicht auf Verluste – egal ob Mensch oder Natur – agieren und sich dabei auf die bestehenden Gesetze berufen. Umwelt kostet nichts und der Faktor Mensch scheint auch ersetzbar. Warum kann ich als Unternehmen nicht über den Gesetzesrand hinweg blicken und für eine ethisch faire Wirtschaft eintreten. Eine Kultur des Miteinander scheint den Unternehmen fremd zu sein. Auch extreme Meinungen sind für mich frustrierend. Egal ob links oder rechts, die Gewaltbereitschaft, der Egoismus und die fehlende Selbstreflexion zur Durchsetzung der eigenen Interessen, führen immer zu mehr Konflikten und Hass. Ich kann die Dinge nur bedingt ändern, da wird meine Nörgelei nichts bewirken. Sie trägt höchstens zur eigenen schlechten Stimmung bei.
Achtsamkeit erfordert eine schweizerische Haltung
In der aktuellen Verwendung des Begriffs Achtsamkeit wird dieser auf die Art und Weise reduziert, wie wir mit uns selbst umgehen. Verwerflich ist das Ziel dieser einseitigen Achtsamkeit: Wir sollen dadurch wieder leistungsfähiger werden, um dem Alltagsstress und der scheinbaren Überforderung gewachsen zu sein. Dadurch ändert sich nicht. Bewusst und gesund Essen, Atemübungen, in sich selbst ruhen und unser Selbst beobachten, am besten über Messung aller Daten durch Smartwatches, Fitnessarmbänder und Apps. Die Technik bestimmt unser Leben oder bestimmt unser Leben die Technik? So wird aus dem gut gemeinten Rat Kommerz. Auch hier folgt der Mensch dem sozialisierten und industrialisierten Gedanken des Geschäftemachens. Wo Aufmerksamkeit ist, liegt Geld, dass es zu verdienen gilt.
Ich habe eine Zeit lang Weng Chun Kung Fu und Shaolin Qigong betrieben. Was mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist die Qigong-Übung der entspannten Aufmerksamkeit. Auf einem leicht schrägen Hocker, die Beine nach hinten abgewinkelt, verbringt man eine zeitlang sitzend und ruhend in sich selbst. Dabei wird die Umgebung bewußt wahrgenommen, allerdings nicht bewertet. Das vorbeifahrende Auto nehmen wir wahr, bewerten aber nicht die Situation, die Fahrweise. Vielleicht ist dieser Geist der traditionellen chinesischen Kampfkunst ein Schlüssel für eine respektvolle Kultur des Miteinanders.
Die Zukunft der Achtsamkeit – Mehr Langeweile bitte
Die entspannte Aufmerksamkeit ohne Bewertung ist ein Schlüssel für den Umgang mit unserer Umwelt, nicht nur gegenüber uns selbst, sondern auch gegenüber unseren Mitmenschen. Genau deswegen empfinde ich Langeweile nicht als störend. Ich geniesse das Innehalten und die Reflexion gelesener und erlebter Dinge. Ich genieße die Momente auf der Couch, in denen ich meine Gedanken schweifen lassen kann. Achtsamkeit bedeutet Freiheit, wenn wir uns vom Alltag zurückziehen, uns durch keine Technik ablenken lassen und unserem Selbst hingeben. Dabei gilt es in einer Aufmerksamkeit zu verharren, die keine Bewertung zulässt. Diese bewussten Momente entfremden uns nicht von ihr. Im Gegenteil: sie verbinden uns mit der Welt da draußen und schaffen wieder unsere eigene Welt, mit eigenen Gedanken! Eine positive Welt ohne ständiges Gemeckere. Eine reiche Welt, weil wir zufriedener sind. Für diese neue Achtsamkeit müssen wir Geduld mit der Langweile haben, dann verstehen wir die kommunizierten Informationen und wissen mit dem Wissen umzugehen.
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